Der alte (weiße) Mann und die Kunst

— Ein Besuch der documenta 14 in Kassel und Reinhold Spyras Kunsthaus in Edertal.

Im Juli 2017 besuchte ich zusammen mit meiner Frau und einigen anderen Familienmitgliedern die documenta 14 und das nahe gelegene Kunsthaus meines Großonkels Reinhold Spyra, in dem er hunderte seiner eigenen Werke ausstellt. Ich möchte hier einige fotografische Eindrücke der beiden Besuche zeigen.

Zusammen betrachtet entsteht zwischen den beiden Ausstellungsorten ein Spannungsfeld zwischen einer internationalen Kunst, die einen erneuerten politischen Anspruch erhebt (“Von Athen lernen”), dabei jedoch seltsam blutleer bleibt, sowie der persönlichen, ichbezogenen Kunst eines alternden Individualisten, die gleichzeitig schon immer seltsam politisch war.

Beispiele für die Blutarmut der documenta (oder doch nur unfreiwillig ironische Momente?) sind das Schild “Betreten auf eigene Gefahr” an der Blutmühle von Antonio Vega Macotela oder die Sicherheitsabsperrung um Kendell Geers Acropolis Redux (The Director’s Cut), welche unvorsichtige Betrachter davor bewahrt, sich am Stacheldraht zu verletzen.

Reinhold Spyras Kunstwerke hingegen können angefasst werden, sie zerfallen unter dem Einfluss der Witterung und der Künstler selbst hat keine Scheu den Betrachter zu irritieren, wenn er seine eigene Biografie und selbst erlittene Verletzungen zum Thema seiner Werke macht.

Ist es eventuell diese Freiheit von Ironie, welche die Kunst des Amateurs von der des (Marketing-)Profis abheb? Oder sind es die Erwartungen des Betrachters, welcher der erfolgreichen Kunst Doppelbödigkeit unterstellt, während er der Kunst des Amateurs Unschuld und Authentizität zugesteht?

documenta: Marta Minujín: The Parthenon of Books (2017); Stahl, Bücher, Kunststoffolie; 19,5 × 29,5 × 65,5 m; (Friedrichsplatz, Kassel).
documenta: Detail des The Parthenon of Books mit Blick auf den am Fridericianum angebrachten Schriftzug von Banu Cennetoğlu: BEINGSAFEISSCARY (2017); Ten aluminum letters borrowed from the Fridericianum and six letters cast in brass after the existing ones; 57.5 × 1085 × 1 cm; (Fridericianum, Kassel).
documenta: Innenansicht The Parthenon of Books.
documenta: Antonio Vega Macotela: The Mill of Blood (2017); Stahl, Holz, Glas; 5 × 9 × 9 m; (Westpavillon (Orangerie), Kassel).
documenta: Antonio Vega Macotelas The Mill of Blood demonstriert wie Münzen mit menschlicher Arbeit produziert werden. „Betreten auf eigene Gefahr.“
Reinhold Spyra: In seinem Künstlerhaus stellt Reinhold Spyra aus, wie er in seiner Zeit als aktiver Arzt gearbeitet hat. Menschen im Operationssaal (2003); Rauminstallation mit 2 Schaufensterpuppen in ehemaligem Operationsraum.
Reinhold Spyra hält mit seiner Meinung nicht hinterm Berg. Hier zu sehen eine Einschätzung der documenta, wenn wohl auch noch auf eine der vorherigen Inkarnationen bezogen.
Reinhold Spyra: Ein weiteres Beispiel. Hier bekomme ich als Fotograf selbst mein Fett weg. Natürlich kann (heutzutage) jeder fotografieren, aber nicht alle sind Fotografen.
documenta: Kendell Geers: Acropolis Redux (The Director’s Cut) (2004); Einzäunung und Stahlregale; Maße variabel; (Fridericianum, Kassel).
documenta: Detailansicht von Acropolis Redux (The Director’s Cut).
Reinhold Spyra: Wir haben den deutschen Schweinestaat besiegt (2001); Mischtechnik, Sprayfarben, Pressspanplatte; 135 x 205.
documenta: Guillermo Galindo: Fluchtzieleuropahavarieschallkörper (2017); Remains of fiberglass and wooden boats, lifebelt and paddle from Lesbos (Greece), goatskin, metal tubes, elastic band, scrap metal, harpsichord strings, piano strings, and metal; (documenta Halle, Kassel).
documenta: Andere Ansicht von Guillermo Galindos Fluchtzieleuropahavarieschallkörper.
Reinhold Spyra: Der vom Schicksal Geschlagene (1987/88); roter Sandstein, Eisenkette, 8 Tonnen Gewicht, 400 Arbeitsstunden.
documenta: Takis: Gong (1978); Metall, Elektromagnet; 450 × 150 cm (Fridericianum, Kassel). Die Fotografie kann dieses Werk nur unzureichend wiedergeben: Auf der Rückseite der Metallplatte schlägt der Elektromagnet in regelmäßigen Intervallen auf die Platte und erzeugt einen durchdringenden, scheppernden Klang.
Reinhold Spyra: Darstellung der Zerstörung der Edertalsperre durch die Royal Airforce im Mai 1943. Auch hier lässt sich die Ausstrahlung des Gemäldes nur unzureichend fotografisch festhalten.
documenta: George Hadjimichalis: Crossroad. The Crossroad Where Oedipus Killed Laius. A Description and History of the Journey from Thebes to Corinth, Delphi, and the Return to Thebes (1990–1995/1997); Eisentisch, Pigment und Kunstharz auf 9 Stahlplatten, 64 Silbergelatineabzüge und Video, Farbe, ohne Ton 7:14 Min. (Loop); Gesamtmaße variabel (Fridericianum, Kassel).
documenta: Olu Oguibe: Das Fremdlinge und Flüchtlinge Monument (2017); Beton; 3 × 3 × 16,3 m (Königsplatz, Kassel).
Reinhold Spyra: Mahnmal gegen die Flucht und Vertreibung aus den deutschen Ostgebieten (2005); Reliefs mit den Maßen 200 x 200 x 290 auf Monolith aus 12 Tonnen gelbem, schlesischem Sandstein, 210 Arbeitsstunden.
documenta: Ibrahim Mahama: Check Point Sekondi Loco. 1901–2030. 2016–2017 (2016–17); Kohlesäcke, Altmetall, Planen, Metallanhänger und Leder aus dem Inneren einer Henschel-Lok; Fläche: 1729 m² (Torwache, Kassel).
Ansicht des Kunsthauses von Reinhold Spyra. Rechts im Bild: Gewichtheber (1994); Baumskulptur aus Eiche mit Kupferbeschlägen; 470 cm hoch, 10 Zentner Gewicht.

(Sowohl die Fotos der Werke von der documenta, als auch jene aus dem Kunsthaus sind nicht zwingend repräsentativ für alle ausgestellten Werke, sie sollen nur meinen eigenen Eindruck wiedergeben.)